Der Philosoph als Autor

 

 

Wir wissen es. Der zeitgenössische Leser ist ein Ignorant, einer, der weder Sinn noch Verständnis für die Philosophie hat.

 

Die Buchkäufer von heute sind nicht interessiert am Tiefen, Profunden, das ihnen die Philosophie zu bieten vermag. Der kulturelle Verfall bringt es mit sich, dass Autoren, die Qualität bieten, vom Markt nicht angenommen, ja zurückgewiesen werden. Man hat es schwer als Philosoph. Nicht nur, dass man vom profitgierigen Publikumsverlag erst gar nicht verlegt wird, nein, selbst wenn man einen dazu mit Raffinesse überlistet hat, wird einem die zum Überleben so unerlässliche Publicity fast gänzlich verwehrt. Mit voller Absicht. Kein Wunder also, dass das Fristen einer Existenz als akademischer Hungerleider zum Ausweis genuiner Intellektualität und charakterlich höchster Güte geworden ist, mit der man sich als Idealist voll stolzer Demut bescheiden vor seinesgleichen brüsten darf. Ja, man hat es schwer als Philosoph.

 

Wie kommt es, das der moderne Mensch das Interesse an der Philosophie verloren hat? Wollen die Menschen der Wissensgesellschaft nicht mehr „wissen“? Oder wollen Sie nur etwas anderes wissen, als das, was ihnen die moderne Philosophie zu bieten hat? Ich werde Ihnen verraten, welches Buch ich grade beschlossen haben nicht mehr weiter zu lesen und an welcher Stelle das geschehen ist. Falls es Sie interessiert:

 

„Aber selbst dann, wenn eine Theorie preisgegeben werden muss, erfolgt ihre Verabschiedung nicht nach jener einfachen logischen Schlussfigur, sondern erst nach einer Reihe methodischer Erwägungen, in welche - abgesehen noch von verfügbaren alternativen Theorieentwürfen - nicht zuletzt auch ihre empirische Reichweite sowie unerschütterliche Bewährtheit bei kritischen Tests aus anderen Erfahrungsbereichen einbezogen werden, was unter Umständen auch zu stützende Maßnahmen jedenfalls für Teilbereiche der Theorie führen kann, ohne dass diese damit schon als unkritische oder gar immunisierende Strategien abgetan werden könnten.“

 

Was gibt es wichtigeres, faszinierenderes als die Frage, was „Wahrheit“ ist? Dieser Satz stammt aus einem Handbuch, das rund zwanzig philosophischen Disziplinen je ein Kapitel gewidmet hat. Er zählt 78 Wörter und ist dem m.E. wichtigen Kapitel über Wissenschaftstheorie entnommen. Selbst mein Textprogramm weiß über ihn die folgende Auskunft zu erteilen: „Satzlänge: Lange Sätze sind oft schwerverständlich. Versuchen Sie, mehrere kürzere Sätze zu formulieren.“ Das will ich meinen. Und die Herausgeberin schämt sich nicht, in ihrem Vorwort zu behaupten, die Beiträge hätten „Einführungscharakter und sollen Grundlagenkenntnisse vermitteln.“

 

Aber es ist nicht nur die Form der Präsentation, die einen geistig gesunden Laien ein für alle mal wirkungsvoll von dem Wunsch befreien muss, sich näher mit philosophischen Themen auseinander zu setzen. Auch die präsentierten Inhalte vieler philosophischer Schriften selbst, müssen auf einen realitätsnahen Erwachsenen zutiefst verstörend wirken. Kostprobe?

 

„‚Nimm diese Feige hier!’ Zenon will sie nehmen, Parmenides aber zieht die Hand zurück: ‚Ich meine doch nur als Beispiel!’“ Pluspunkt zu Beginn, dröge will die uns zu vermittelnde Einsicht nicht daherkommen. Dann aber:

 

„Vorsichtig hält der Alte sie wieder hin und fährt fort: ‚Wenn sie am Baum zur Frucht reift, sagen wir: Die Feige ist bald reif. Wenn sie süß ist und prall, um gegessen zu werden, sagen wir: Die Feige wird schmecken. Wenn niemand sie erntet, sodaß sie vom Ast fällt, am Boden zerplatzt und verfault, dann sagen wir: Am Boden liegt eine Feige, die verfault. Gleichgültig, wie alt sie ist, wir sagen in jedem ihrer Lebensabschnitte zu dieser Frucht Feige. Wir sagen Feige, weil es eben immer eine Feige ist. Nichts hat sich gewandelt. Aus dem Keim kommt die Frucht, aus der Frucht kommt der Keim.’“

 

Weise Worte aus der Feder eines promovierten Philosophen. Was wollen Sie uns bedeuten? Verallgemeinernd: 1. Ein Begriff repräsentiert eine Entität ungeachtet ihres Potentials verschiedene Erscheinungsformen anzunehmen. 2. Trotz der offensichtlichen Wandlung der Erscheinungsform, habe sich „nichts“ gewandelt. Wie interessant. Wenn man dieses Beispiel wörtlich nimmt, steht es für die Behauptung, logische Widersprüche seien in der Realität möglich. Die Welt ist demzufolge ein willkürliches Chaos, in dem das Gesetz der Identität nicht gilt. Alles ist möglich, Naturgesetze beruhen auf bloßer Einbildung, wir können nichts wirklich wissen. Wenn man Aussage 2. wohlwollender auslegt, nämlich so, dass mit „nichts“ nicht tatsächlich „nichts“ gemeint ist, sondern „nichts Essentielles,“ dann ist das Beispiel einfach nur trivial und somit höchstens für Grundschüler erhellend. Was soll ich damit bloß anfangen? Wie hilft mir diese „Einsicht,“ mein Leben zu meistern?

 

Und genau das ist es, was der Durchschnittsbürger mit dem Begriff der Philosophie verbindet: verbale Taschenspielertricks, kunstvolle Doppeldeutigkeit, nutzloses Geschwafel, seitenfüllende Banalitäten, unverbindliche Geistreicheleien, absurde Wortspiele, die nur als semantische Rorscharchtests etwas taugen, intellektueller Autismus, Endnotenfetischismus, verwirrende Metaphern und noch verworrenere Geister, die sie hervorbringen. Und wozu das alles?

 

Damit man uns sagt, man könne nicht unterscheiden, zwischen richtig und falsch, zwischen nützlich und schädlich, rational und irrational, konstruktiv und destruktiv, Wert und Unwert, letztlich, zwischen Gut und Böse. Anything goes, solange es nur ausreichend unverbindlich, ungewiss, überreflektiert, und irgendwie grau ist, solange es zur Mäßigung mahnt und den Mittelweg empfiehlt, den Ausgleich such, und den Kompromiss. Und schließlich, als ob der Geistes-Geiseln noch nicht genug, ist es erforderlich geworden, sich der Selbstverpflichtung zu unterwerfen, alles einzuebnen, und platt zu machen, was möglicherweise irgendjemandem auf irgendeine Art und Weise unter Umständen „politisch nicht korrekt“ vorkommen könnte.

 

Schwätzen um des Schwätzens willen ist zum Leitbild selbst der Amateur-Philosophen in den zahllosen Internet-Foren geworden, die offensichtlich keine Antworten, keine Klärung suchen, sondern sich in der Pose des ewig Fragenden gefallen wollen. Denn das haben sie sich vom Berufsphilosophen, ihrem Vorbild, abgeschaut, und halten das, diese permanente Flucht vor dem Urteil, für „Intellektualität.“

 

„Like any overt school of mysticism, a movement seeking to achieve a vicious goal has to invoke the higher mysteries of an incomprehensible authority. An unread and unreadable book serves this purpose. It does not count on men’s intelligence, but on their weaknesses, pretensions and fears. It is not a tool of enlightenment, but of intellectual intimidation. It is not aimed at the reader’s understanding, but at his inferiority compelex. An intelligent man will reject such a book with contemptuous indignation, refusing to waste his time on untangling what he perceives to be gibberish - which is part of the book’s technique: the man able to refute its arguments will not (unless he has the endurance of an elephant and the patience of a martyr). A young man of average intelligence - particularly a student of philosophy or of political science - under a barrage of authoritative pronouncements acclaiming the book as ‘scholarly,’ ‘significant,’ ‘profound,’ will take the blame for his failure to understand. More often than not, he will assume that the book’s theory has been scientifically proved and that he alone is unable to grasp it; anxious, above all, to hide his inability, he will profess agreement, and the less his understanding, the louder his agreement - while the rest of the class are going through the same mental process... Within a few years of the book’s publication, commentators will begin to fill libraries with works analyzing, ‘clarifying’ and interpreting its mysteries” (Ayn Rand, Philosophy: Who Needs It, Kapitel 11)

 

Genau auf diese Weise entstehen Bücher, denen die Publicity, außerhalb des ökonomisch insignifikanten Marktes der zu beeindruckenden Fachkollegen, so hartnäckig verwehrt wird. Ein Autor bekennt sich in einem Interview offen dazu, dass ihm nicht im Geringsten daran gelegen ist, die Wahrheit zu identifizieren und Fakten zu vermitteln, sondern, dass vielmehr die Realität an sich, eine Belästigung ist, die man anderen nicht einfach so „aufzwingt“: „Viele meiner Kollegen bemühen sich ja eher darum, eine Art System oder Wahrheit oder Welterklärung oder Ausschnitt einer Welterklärung dem anderen vorzustellen. Sie wollen eigentlich nicht von ihm gestört werden, sondern sie wollen ihm sagen, wie es ist.“ Und das, so wird uns implizit zu verstehen gegeben, sei ein verabscheuungswürdiges Verbrechen. Und weiter: „Es geht nicht darum, irgendeine neue Ideologie zu kreieren, es geht auch nicht darum, irgendwelche neuen Wahrheiten zu erfinden, und es geht auch nicht darum, die Welt in gut und böse aufzuteilen [...].“ Aha. Was also muss ein Leser daraus schlussfolgern? 1. Man identifiziert keine Wahrheiten, man „erfindet“ sie. 2. Werte zu identifizieren, zu urteilen, d.h., seinen Verstand zu benutzen, ist eine verwerfliche Angelegenheit. Nicht grade hilfreich für jemanden, der a) objektives Wissen erwerben will und b) im Leben die richtigen Entscheidungen treffen muss. Also nutzlos für jeden normalen Menschen mit einem Rest an gesundem Menschenverstand.

 

Und das ist Philosophie in den Augen des Durchschnittsbürgers, des Durchschnittsbürgers, der darauf achten muss, irgendwie über die Runden zu kommen, sein Geschäft vor dem Konkurs zu bewahren oder all die anderen Folgen der Perversität des Etatismus auszuhalten, durchzustehen, irgendwie zu überleben.

 

 

Darum wenden sich Heerscharen an so geistreiche Selfhelp-Gurus wie Dale Carnegie, Anthony Robbins, Jörg Höller, Emil Ratelband, und andere, von deren Namen ein echter Philosoph selbstverständlich noch nie etwas gehört hat. Die Buchläden quellen über vor Profanem und Selbsthilfe-Schund: „Die Hummel hat 0,7 cm^2 Flügelfläche bei 1,2 Gramm Gewicht. Nach den Gesetzen der Aerodynamik ist es ihr vollkommen unmöglich zu fliegen. Die Hummel weiß es aber nicht - und sie fliegt einfach trotzdem!“ Solche „Weisheiten“ werden für viel Geld verkauft, während die, die etwas zu sagen hätten, es nicht zu sagen vermögen: die Philosophen. Ist die Philosophie tot?

 

„It often seems so. In a world of war and change, of principles armed with bombs and technology searching for principles, the alarming thing is not what philosophers say but what they fail to say. When reason is overturned, blind passions are rampant, and urgent questions mount, men turn for guidance to... almost anyone except their traditional guide, the philosopher... Contemporary philosophy looks inward at its own problems rather than outward at men, and philosophizes about philosophy, not about life.” (aus der Time vom 07.01.1966, in: Any Rand, The Voice of Reason, Kapitel 11)

 

Der angestammte Markt des Philosophen wird immer und immer mehr von Anbietern besetzt, die seine Aufgabe besser, aggressiver und kundenfreundlicher erfüllen, als er es tut. Dass ein Markt von nahezu gigantischen Ausmaßen besteht, ist noch an einem Phänomen abzulesen, das unsere gesamte Kultur so tief durchdringt, so allgegenwärtig ist, dass es scheinbar selbst von der Philosophie übersehen wird: die neue Macht der Geschichtenerzähler.

 

Im Jahr stehen den mittlerweile mehr als 30 Fernsehsendern in Deutschland allein für Spielfilme rund 19.000 Sendeplätze zur Verfügung. Die größeren strahlen jede Woche bis zu 300 Sendungen aus, und jedes Jahr strömen rund 150 Millionen Besucher in die Kinos, wo sie an die 2 Milliarden DM Umsatz verbrechen. Im nordamerikanischen Raum macht die Branche im Verleihgeschäft  (Kino, Video, Fernsehen, Pay-TV) jährlich rd. 26 Milliarden US$ Umsatz. Das ist ihr Geld. Wenigsten zum Teil.

 

Was steckt hinter dieser schier unstillbaren Sucht nach immer neuen Geschichten? Warum hat die Natur uns diesen scheinbar selbszerstörerischen Drang mitgegeben, zahllose Stunden wertvoller Lebenszeit unwiederbringlich von Fernsehgeräten, Kinoleinwänden und Computerbildschirmen verzehren zu lassen? Weil wir wissen wollen. Weil wir wissen wollen, was zu tun ist, um Erfolg zu haben, und das erfahren wollen, ohne uns durch Experimente selbst in Gefahr zu bringen. Eine der kognitiv anspruchlosesten Arten des Lernens, ist die des Lernens am Modell. Durch die Beobachtung verschiedener Handlungsabläufe erfahren wir, welche Handlungen erfolgversprechend sind und welche nicht. Geschichten vermitteln uns das, was normalerweise der Moralphilosoph tun sollte, nämlich eine Darstellung von Tugenden und Werten. Natürlich ist es so, dass uns, im Gegensatz zu auf tatsächlichen Begebenheiten beruhenden Geschichten, die Welt des Märchens und die des Spielfilms, eine oftmals antiquierte oder irrwitzige verzerrte Ethik vorgaukelt, aber der Mechanismus bleibt gefährlich wirksam, grade für diejenigen, die ihn nicht durchschauen. Und das sind die meisten, weil Kunst im Allgemeinen für harmlos und unpolitisch gehalten wird. Eine Geschichte ist voller „Das ist gut“- und „Das ist schlecht“-Botschaften. Was muss der Held tun, um das Mädchen zu bekommen? Solche Fragen sollte ihm der Philosoph durch Darlegung der zugrundeliegenden Prinzipien erklären können, denn das sind die Fragen, die hinter der freiwilligen Hypnotisierung des Zuschauers stecken. Jede Mark die für Spielfilme (und übrigens auch für erzählende Literatur schlechthin) in den Kassen der Medienkonzerne landet, ist m.E. auf ein Versäumnis der Philosophie zurückzuführen, praktische Lebenshilfe zu sein.

 

Der Markt für den Philosophen also ist grundsätzlich vorhanden, aber das Fach wird in den Augen der Bevölkerung in dem Maße an Ansehen verlieren, in dem es bei seiner gegenwärtigen Praxis, um nicht zu sagen „Praxisferne,“ bleibt.

 

 

Das kann für den einzelnen Philosophiestudenten oder gar promovierten Philosophen Auswirkungen schicksalhaften Ausmaßes annehmen, die deutliche Zäsuren im Lebenslauf zu hinterlassen vermögen. Sie mussten möglicherweise einen hohen Preis dafür zahlen, sich für ihren Traumberuf zu rüsten. Sie haben entweder im universitären Rahmen oder auf eigene Faust studiert, auf Einnahmen und Annehmlichkeiten verzichtet, die anderen wie selbstverständlich zukamen. Sie haben mit der Zeit eine Liebe zu Ihrem Fach entwickelt, die von einer tiefen Leidenschaftlichkeit zeugt. Und wozu? Um sich als Taxifahrer zu verdingen, als Sachbearbeiter in einem Versicherungskonzern, oder Hilfskellner in Mallorca. Gewiss, manche Ihrer Kollegen haben ein gutes Auskommen und ein vielleicht noch besseres Standing, aber die Regel scheint das nicht zu sein. Wenn alles so bleibt, wie es ist, laufen Sie also Gefahr, in einer Welt unterzugehen, die sich böse Überraschungen für Sie bereitgelegt haben könnte. Denn es kommt von Jahr zu Jahr immer mehr nur noch auf das eine an: die eigene Brieftasche mit schnödem Mammon zu füllen. Und zwar, was das Zeug hält und ohne Rücksicht auf Verluste. Denn das hält man für den Weg zur Glückseligkeit.

 

 

Aber was tun? Sie haben sich für die Philosophie entschieden, weil Sie ein Mensch sind, der vielleicht am Oberflächlichen nur wenig Freude hat, und sich viel lieber dem Fundamentalem das allen Dingen zugrunde liegt, mit Neugier zuwendet. Ihnen liegt das abstrakte Denken, das eine Vielzahl von Lebensbereichen umfasst und zu durchdringen vermag. Sie haben ganz bestimmte Neigungen und Vorlieben entwickelt, die Sie nicht so gerne aufgeben wollen. Für einen Philosophen ist es also wichtig, all die Gründe die zu seiner Beschäftigung mit der Philosophie geführt haben, nicht aus den Augen zu lassen, während er den auch für ihn geltenden ökonomischen Verpflichtungen nachkommt.

 

Wenn man als Philosoph Schwierigkeiten hat, vom Markt angenommen zu werden, wäre es vielleicht angebracht, die Fähigkeit des Fragenstellens auf die eigene Situation und auf sein Umfeld anzuwenden. Da in einem Markt immer der Andere den Schlüssel zu meinem Lebensunterhalt in den Händen hält, ist es nicht unwesentlich zu fragen, was denn das menschliche Leben, im Lichte der Psychologie besehen, ausmacht.

 

Als Philosoph kennen Sie die Antwort sicherlich schon: es ist ein Streben nach Zufriedenheit mit sich selbst und den Umständen seiner Existenz. So in ungefähr kann man das umschreiben, was die Griechen „Eudämonie“ nannten und somit die Triebfeder jedes bewussten menschlichen Verhaltens ist. Wenn Sie nicht nur ein Philosoph sind, sondern auch ein Mensch mit einem intaktem Selbsterhaltungstrieb, wollen Sie gelesen werden. Sie werden allerdings nicht in irgendeinem bedeutendem Ausmaß gelesen werden, wenn Sie die Lebenspraxis Ihrer Kunden mit ihrem Streben nach  Glück, mutwillig durch Unverständlichkeit, Irrationalismus oder Irrelevanz erschweren, statt sie zu erleichtern. Sie werden als Autor auf der Gewinnerseite stehen, wenn Sie Ihren Lesern zeigen, wie sie in einer komplexen Welt Gewissheit erlangen können und welche Praktiken als Tugenden betrachtet werden können. Zeigen Sie den Menschen, wie sie ein gelungenes Leben führen können, und Sie werden in dem Ausmaß gelesen werden, in dem sich Ihre Empfehlungen als praktikabel erweisen.

 

Geben Sie Ihren Lesern, wonach sie sich verzehren. Entscheiden Sie sich ein für alle mal, Ihnen den Unterschied zwischen wahr und unwahr erklären zu wollen, zwischen richtig und falsch, zwischen nützlich und schädlich, rational und irrational, konstruktiv und destruktiv, zwischen Gut und Böse. Erklären Sie Ihren Lesern, was tugendhaft ist und was nicht. Erklären Sie Ihren Lesern, was ein gutes Leben ist, und wie man es führen kann. Erklären Sie Ihren Lesern, was Irrationalität ist, wie man Sie entlarvt und wie man sie überwinden kann. Machen Sie keine faulen Kompromisse mit dem Zeitgeist. Schlagen Sie nicht den Mittelweg vor, wenn Sie genau wissen, welcher der rechte Weg ist. Haben Sie den Mut, Menschen etwas weh zu tun, um Ihnen den Weg zur Wahrheit zu weisen, sollte das nötig sein. Sagen Sie laut und deutlich, „Und sie dreht sich doch!“ Nutzen Sie die Gedankenfreiheit, die Freiheit von Lehre und Forschung, denn die brutalsten Zensurmaßnahmen wurden bereits abgeschafft. Mit etwas Glück, wird man Sie heutzutage für Ihre Ideen noch nicht einmal unter Hausarrest stellen oder Sie observieren lassen, selbst wenn diese noch so viel Protest erregen. Haben Sie auch den Mut, „kommerziell“ zu sein, um aus dem Philosophen-Ghetto auszubrechen. Es gibt verdammt viele Menschen, die Orientierung suchen, einen festen Halt, auf den schlüpfrigen Pfaden des modernen Lebens. Sie sind derjenige, der dafür geeignet ist, Hilfestellung zu geben, die helfende Hand zu reichen und ggf. bei Zeiten, zu des Lesers eigenem Besten, einen paternalistischen Watschen zu verabreichen. Andererseits aber: anything goes nicht!

 

Es gibt so etwas wie eine Realität, die eifrig von den Naturwissenschaften erforscht wird. Sie können nicht ernsthaft Behauptungen aufstellen, die ohne triftigen Grund den Erkenntnissen aus diesem Bereich zuwiderlaufen. Es macht keinen Sinn, so zu tun, als gäbe es keine Wissenschaft, weil es keine zuverlässigere Methode gibt, systematisch das Sein zu ergründen. Die Praxis hat das hinlänglich bewiesen. Sie machen sich zum Betrüger an Ihren Lesern, wenn Sie hier die Unterlassungssünde der fehlenden Recherche und Integrierung begehen. Die Erkenntnisse der Ihr Gebiet berührenden Einzelwissenschaften gehen Sie etwas an. Das „große Bild“ zu präsentieren, das ist Ihr Job!

 

 

Wenn Sie all das tun, wird die Philosophie mit Ihrer Hilfe wieder ihre alte Bedeutung erringen. Die Buchkäufer werden statt Schund ihre Werke kaufen, Publikumsverlage werden Ihnen ihre Türen öffnen, und sie werden Ihnen die nötige Publicity verschaffen, um Ihre Karriere als Philosoph verfolgen zu können. Wenn in Zukunft nur ein kleines bisschen weniger Geld für Bildergeschichten und realitätsfremde Erzählkunst ausgegeben wird, könnte das für einen Ihrer Kollegen die Rettung seiner Existenz bedeuten. Sie müssen keiner berufsfremden Tätigkeit mehr nachgehen.

 

Und das Gute dabei ist, dass Sie trotz dieses kleinen Zugeständnisses an die menschliche Natur, weiterhin das tun können, was Sie erst zum Philosophieren bewogen hat. Sie können sich, selbst mit dem geforderten Lebens- und Praxisbezug, weiterhin dem abstrakten Denken widmen, Integrationen machen und tiefgehende Analysen erstellen, das Fundamentale, Essentielle und Holistische identifizieren, die Totalität des Seins betrachten und seine Strukturen herausarbeiten.

 

Sie können es tun. Sie können es heute schon tun. Und zwar, wenn Sie wollen, jetzt gleich, indem Sie einfach den ersten Schritt wagen, und den Entschluss fassen, an das Wohlergehen Ihrer Mitmenschen zu denken! Sich einfach nur zu vergegenwärtigen, dass der Mensch ein Wesen ist, das nach Glück strebt. Das ist der erste Schritt. Geben Sie uns eine Richtung vor, und wir werden Ihnen folgen.

 

 

Ausblick

 

Es ist mir ein Anliegen, an dieser Stelle an ein Projekt zu erinnern, das vor fast Hundert Jahren begonnen wurde und m.E. noch auf seine Vollendung wartet: Ernst Haeckels Weltanschauung des „Monismus.“

 

Den Nicht-Philosophen, die diesen Text lesen, wird das wahrscheinlich nichts sagen. Die Rede ist hier von den „Gemeinverständlichen Studien über monistische Philosophie“ (Untertitel) die erstmals 1899 vom Naturforscher und Philosophen Ernst Haeckel unter dem Titel Die Welträtsel veröffentlicht wurden. Ich erlaube mir, hier den Klappentext wiederzugeben:

 

„Die Welträtsel, dieses ‚Glaubensbekenntnis’ eines großen Naturforschers, sind 1899 erschienen (seit 1903 im Alfred Kröner Verlag). In schwungvoller, populärwissenschaftlicher Darstellung formulierte Ernst Haeckel (1834-1919) hier seine monistische Philosophie, seine naturwissenschaftlich-materialistische Weltanschauung erstmals im systematischen Zusammenhang. Begeistert aufgenommen und fanatisch bekämpft, vor allem von christlicher Seite, erschien das Werk in 25 Übersetzungen und wurde mit einer halben Million Exemplaren allein im deutschen Sprachraum bald zum Bestseller der Jahrhundertwende. Der heute wieder lebhaft diskutierte Autor vereinigte den Wissenschafts- und Fortschrittsoptimismus seiner Zeit mit den ersten Überlegungen zur Ökologie im heutigen Wortsinn. Zugleich sind seine Welträtsel ein eindrucksvolles Beispiel gegen die vermeintliche politische Neutralität der Wissenschaft.“

 

Was Haeckel zum Philosophen im besten Sinne seines Wortes macht, ist sein Versuch, empirisches Wissen zu einem ganzheitlichen Sytem zu verbinden, ohne auf die metaphysische Spekulationen zurückzugreifen, die sich spätestens seit dem Auftauchen der Naturwissenschaften überlebt haben.

 

Wenn man sich jedoch der Philosophie zuwendet, hat man alles andere als den Eindruck, sich in einem aufgeklärten Zeitalter zu befinden. Philosophische Spekulationen sind nur dort notwendig, wo keine durch die Naturwissenschaften gesicherten Erkenntnisse vorliegen. Soll Philosophie nicht eitles Gewäsch bleiben, muss sie sich zu ihrer Rolle als Proto-Wissenschaft bekennen, d.h. zu einem Pionier und Wegweiser für diejenigen Wissensgebiete werden, die für sich Wissenschaftlichkeit beanspruchen. Das bedeutet nicht, dass sich Philosophen in einzelwissenschaftliche Forschung vertiefen sollen. Nein, sie sollen, ganz im Gegenteil, ruhig beim Abstrakten und Fundamentalen bleiben, das auch ihre bisherige Arbeit gekennzeichnet hat. Nur soll dieses Abstrakte und Fundamentale nicht fern von jeglichem Kontakt mit dem Empirischen bleiben, sondern dieses vielmehr zu einem umfassenden System verbinden, das uns ein ganzheitliches Abbild der Realität als Werkzeug an die Hand gibt. Die Philosophie könnte so, die immer noch stark von Traditionalismen und Interessenpolitik geprägten Geisteswissenschaften aufrütteln helfen.

 

Ein zaghafter Versuch uns den rechten Weg zu weisen, wurde von dem Begründer der Soziobiologie, E.O. Wilson, in seinem erhellenden Buch Die Einheit des Wissens geleistet. Es verwundert nicht, dass es grade dafür von der „politisch korrekten“ Intellegentsia und den sozialromantischen Kolumnisten linker Blätter nieder gemacht wurde. Ich würde mich freuen, wenn Sie in Wilsons Sinne als Philosoph dazu beitragen würden, Haeckels Projekt wieder salonfähig werden zu lassen. Denn das ist es, was die Menschheit meines Erachtens am dringendsten benötigt: ein wahrheitsgetreues Abbild der Realität, ihrer Geschlossenheit, Einheit und Ganzheitlichkeit.